Floriks Fantastereien

Antagonismus mit Augenzwinkern

Ich habe dieses Jahr Paranoia XP gelesen: ein humoristisches Rollenspiel, das für die Neuauflage von 2004 auf 256 Seiten aufgebläht wurde. Ein, zwei Seiten habe ich jeden Abend vor dem Einschlafen geschafft. Es war eine Qual. Humor funktioniert prägnant am besten.

Aber klar, da verstecken sich Perlen drin. Tolle Ideen, und, ja, auch sehr gute Witze. Deshalb ist Paranoia (zumindest seine früheren Ausgaben) so beliebt, ja legendär, und deshalb habe ich über Monate weitergelesen.

Ich plane hier keine Rezension eines Rollenspiels, dessen Kern aus den Achtzigerjahren stammt. Nein, aber Paranoia hat in mir einen Gedankengang angestoßen, der vielleicht noch nicht ganz ausdifferenziert ist: Es geht mir um den mit einem Augenzwinkern propagierten Antagonismus zwischen Spielleitung und Spielenden.

Was will Paranoia?

Paranoia teilt der Spielleitung eine gottgleiche Rolle zu. Die SL hat hier das Recht, ja, sogar die Pflicht, Spielende zu belohnen und zu bestrafen, an der Nase herumzuführen und zu schikanieren.

GM Rule #1. You are IN CHARGE. You are ALWAYS RIGHT. (...) GM Rule #2. The players aren’t your enemies. They’re your entertainment. Reward player behavior that entertains you; punish behavior that doesn’t. Dance them like puppets on strings.1

Wie viel Ironie in dieser Aufforderung steckt, darüber lässt sich streiten. Schließlich ist es die Natur der Ironie, Festlegungen auszuweichen.

Sagen wir so: Das in Paranoia XP enthaltene lineare und wahrhaft schikanöse Abenteuer weist in eine bestimmte Richtung; ich hingegen habe beschlossen, mich auf das Augenzwinkern zu konzentrieren, das die Regeln durchzieht.

Die SL als Gegenspieler

Paranoia selbst habe ich nie geleitet (und nur einmal gespielt, wenn das Gedächtnis nicht trügt). Mir ist aber durch Paranoia bewusst geworden, dass ich als Leitung gern eine nicht ganz ernsthafte Gegenspieler-Position einnehme.

Es macht mir Spaß, wie ein Paranoia-GM lächelnd vorzuschlagen: "Hmm, Cleia, du trinkst die Flüssigkeit aus der Phiole? In der Hälfte der Fläschchen ist leider Gift. Aber aufgrund deiner besonderen Fähigkeiten könntest du in der Lage sein, die giftigen von den nützlichen Tränken zu unterscheiden ... Da musst du wohl einen Wurf machen. Was könnte passieren, falls er dir nicht gelingt? Es könnte dir die Eingeweide durchbrennen, und in einer halben Stunde bist du tot... Ja, das ist mein Vorschlag für den Ausgang des Wurfs. Hat jemand eine andere Idee?"

Die Systeme, in denen ich eine solche Haltung einigermaßen entspannt einnehmen kann, sind Cthulhu Dark, Trophy Dark/Gold und alea atra.

Warum gerade diese? Ich glaube, es gibt diese eine entscheidende Gemeinsamkeit: Alle drei System erlauben es Spielenden und Spielleitung, Hindernisse und negative Resultate von Würfen einzubringen, sie können aber von anderen überstimmt zu werden. In Trophy Gold musst du meinen Teufelspakt nicht annehmen, in Cthulhu Dark oder alea atra kann es zu dem von mir vorgeschlagenen negativen Ausgang Gegenvorschläge geben.

Vor jedem Wurf führen wir in diesen Systemen letztlich erneut die Diskussion: Wie humorvoll und familientauglich, wie grausam und tödlich soll unsere gemeinsame Erzählung sein? (Nur dass wir eben nicht diskutieren, oder nur implizit. Wir alle machen Vorschläge. Einer wird ausgewählt.)

Was ist die Aufgabe der SL?

In diesen Systemen also ist mir aufgefallen, dass ich als SL zumeist die härtesten Vorschläge mache. Warum?

Wahrscheinlich wünsche ich mir einen düstereren Ton als die meisten Mitspielenden, aber ein Stück weit liegt es, glaube ich, auch an der Perspektive der SL. Ihre besondere Aufgabe ist es meines Erachtens, den Blick stets auf die Widerstände zu richten, die sich den Spielenden bieten.

Es ist nämlich wahnsinnig schwer, gleichzeitig die Entwicklung der Figuren und die Trägheit der Welt, gleichzeitig das Voranschreiten der Gruppe und den Widerstand dagegen im Kopf zu haben. Wer schon einmal einen Roman geschrieben hat, wird das wissen.

PbtA-Spiele laden mich ein, Fan der Spielfiguren zu sein. OSR- und NSR-Systeme halten die Leitung dagegen zu Neutralität an. Wie eine Schiedsrichterin oder oder ein Computer soll sie "fair" entscheiden, was aus den Handlungen der Spielfiguren resultiert.

Ich versuche, sowohl Fan als auch gerecht zu sein. Trotzdem bin ich mit dem Wortlaut beider Vorgaben nie so recht warm geworden. Ich finde es nämlich gar nicht relevant, ob ich als SL Fan der Figuren bin. Das ist schlicht nicht mein Fokus, ist nicht das, worauf ich während des Spiels achte. Und auch Neutralität kriege ich nur bis zu einem Grad hin. Im Sinne einer spannenden Erzählung ist es meine Aufgabe, die Widerstände hoch zu halten. Ich bin hauptsächlich Gegenspieler, das ist mein Job. Die anderen haben dafür wenig Ressourcen frei.

Wie viel ist zumutbar?

Mein Augenmerk gilt den Widerständen, aber wie viel Widerstand darf ich der Gruppe zumuten? Wie viel Härte, wie viel Tödlichkeit? Das zu beurteilen fällt mir nie leicht.

Erst Übertreibung macht die Härte akzeptabel. Hey, Leute, ich bin eigentlich nicht bösartig. Es ist halt mein Job, eure Figuren in Gefahr zu bringen!

Antagonismus mit Augenzwinkern hilft mir also, glaube ich, meine Aufgabe als SL am Tisch zu erfüllen. Er bewährt sich besonders in Kombination mit Prozeduren, die allen Spielenden erlauben, über den Ausgang von Aktionen zu verhandeln. Meine bevorzugten Systeme bringen solche Prozeduren mit. Neben der Ironie sind sie ein zweites Sicherheitsnetz.

  1. Paranoia XP SP1, S. 50

#deutsch #osr #pbta #storytelling