Floriks Fantastereien

Vignetten aus dem All: Traveller's Tales, Vol. 1

Die Rollenspiel-Branche hat viele seltsame Bücher hervorgebracht. Eines der seltsamsten lese ich gerade.

Traveller's Tales, Vol. 1 von Neil Grant enthält auf 180 großformatigen Seiten 300 Vignetten. Das sind Stücke unzusammenhängender Erzählprosa, alle angesiedelt vor dem Hintergrund des Rollenspiels Traveller.

Eine solche Vignette ist eine zwischen drei und sechs Absätzen lange Szene oder Beschreibung. Ein Stück Erzählung wie aus einem Roman. Wie eine aus einem Buch herausgerissene Seite. Auf jede Vignette folgt außerdem eine "Author's Note", die Intention, möglichen Einsatz im Spiel und Querverbindungen herausstellt.

Ein Beispiel: In Vignette 126 kommuniziert ein namenloser Ich-Erzähler mit einer Aslan. Aslan sind in Traveller Aliens, nämlich von einem Ehrenkodex beherrschte Löwenmenschen. Um diesen Ehrenkodex geht es. Der Bruder der Gesprächspartnerin hat dagegen verstoßen. Sie erklärt, wie es dazu kam und dass der Bruder nun vogelfrei ist und der Tod (etwa durch den Ich-Erzähler) eine Gnade für ihn bedeuten würde.

Und das war's. Es folgt noch die Erläuterung des Autors, dass die Vignette die Fremdartigkeit des Aslan-Denkens herausstellen solle; dass der Bruder als NSC einen guten Gegenspieler abgäbe, aber das Schicksal des Bruders auch als Legitimation und Hintergrundgeschichte dienen könne, um einen Aslan als Spielfigur einzusetzen.

Ich lese das und stelle mir die Frage: Was soll ich damit machen?

Das Problem ist nur, dass ich Vignette 126 wahrscheinlich nicht gerade im Kopf habe, falls ein Spieler wirklich mit der Idee kommt, einen Aslan zu spielen. Und wenn ich umgekehrt als SL den Spielenden unaufgefordert irgendwelche Vignetten in die Hand gebe, nehme ich ihnen etwas von ihrem im traditionellen Rollenspiel-Modell ohnehin engen Gestaltungsraum.

Beim Lesen der Traveller's Tales ging mir durch den Kopf, dass es doch eigentlich besser wäre, wenn wir solche Vignetten gemeinsam gestalten würden, als Parallelhandlungen zu unserer Kampagne, um den Hintergrund anzureichern, denn das ist es, ein reicher Hintergrund.

So geschieht es in der "Unscene" von The Between: Aufgrund von SL-Fragen erzählen die Spielenden eine Episode aus der Stadt London, die außer Schauplatz und Leitmotiven keine Verbindung zur Kampagne haben.

Könnten wir Traveller's Tales live am Tisch improvisieren? Leider geht auch das nur eingeschränkt, denn die Vignetten vermitteln ja einen etablierten Hintergrund, den wir wahrscheinlich nicht parat haben und uns erst ausdenken müssten. Das aber gelingt aus dem Stegreif selten so gut wie in langen Stunden am Schreibtisch oder mit aufgeklapptem Notizbuch.

Die Qualität wäre nicht die gleiche. Neil Grants Vignetten zeigen intensive Beschäftigung mit der Welt von Traveller. Sie transportieren Informationen auf eine äußerst lesbare Weise. Einen Hintergrundband wie Infodata A-Z lese ich längst nicht so gerne...

Dennoch: Vignetten selbst zu erzeugen, wie es The Between vormacht, wäre das interessantere Spielprinzip. Und schließlich treffen wir uns zum Spielen, zum gemeinsamen Fabulieren. Vielleicht findet sich ein Weg, den erdachten Hintergrund für die Kampagne nutzbar zu machen. Es wäre ein Ansatzpunkt.

Das alles bringt mich natürlich nicht weiter bei der Frage, was ich mit den Traveller-Vignetten machen soll. Dabei droht der Namenszusatz schon mit einem zweiten Band ... Traveller's Tales Vol. 1 von Neil Grant ist auf DrivethruRPG für 2 Dollar erhältlich.

#deutsch #storytelling